Die folgende Leseprobe enthält Auszüge aus mehreren Kapiteln des ersten Teils des Romans Nähe, der sich zurzeit in Arbeit befindet. Autor und Rechteinhaber des Textes ist Matej Rumanovský.

1. Welt ohne Väter

Sie wurde in eine Welt ohne Väter hineingeboren.

Das ist nichts Besonderes, in den meisten Fällen erblicken Neugeborene gleich nach der unbeteiligten Miene des Gynäkologen mehrere hocherfreute Hebammen – falls sie durch das ungehemmte Weinen überhaupt zu erkennen sind – und schließlich die vom durchlittenen Leid gezeichnete Mutter, die mit zur Seite geneigtem Kopf endlich die Beine zusammen schiebt und ihr Kind in die Arme schließt.

Alle Kinder kommen ohne Väter zur Welt, was war also anders in Leonies Welt? 

Sie kam in einer eisigen Februarnacht in einem kleinen Krankenhaus unweit der Grenze zur Welt. Sicherlich, es gab auch hier überall Männer, das erste Gesicht, das sie erblickte, gehörte schließlich auch einem Mann, jedoch war das ihres Vaters weder nach ihrer Geburt darunter, noch in der nachfolgenden Zeit.  

Es stimmt, auch das mag heutzutage nichts Besonderes mehr sein, Kinder werden von alleinstehenden Frauen geboren, die Väter pfeifen auf die Verantwortung und leben ihr Leben weiter, nichts hemmt sie, nichts, was ihre physische und hormonelle Verfassung in den neun Monaten beeinflusst hätte, für sie galt es nicht, diese Zeit irgendwie zu überstehen und sie mussten sie auch nicht mit dem schmerzvollsten und niederdrückendsten Erlebnis ihres Lebens abschließen wie es die Mütter taten. Gewiss war das jenen anderen Männern gegenüber ungerecht, den verantwortungsvolleren, deren Leben sich in physischer und hormoneller Hinsicht zwar ebenso wenig änderte, dafür aber in emotionaler und die neben dem unsäglichen Schmerz der Mutter eine genauso unfassbare Freude miterlebten. Von ihnen soll hier jedoch nicht die Rede sein.    

Leonie wurde in eine Welt ohne Väter hineingeboren. Auch wenn sie das selbst anfangs nicht wahrnahm – wie sollte sich auch, sie kannte nichts anderes, diese versteckte Symbolik sagt nur uns etwas. Jedenfalls vorläufig. Denn es wird die Zeit kommen, da sie zusammen mit uns ausgelassen darüber lachen wird. So hoffe ich jedenfalls. 

2. Leonie kommt nach Hause

Als sie ein paar Tage später in den mütterlichen Armen nach Hause kam, wurde sie bereits von drei freudestrahlenden Gesichtern erwartet. Alle gehörten Frauen. Leonie fand das verständlicherweise nicht erstaunlich – genauer gesagt fand sie alles gleichermaßen erstaunlich, wodurch die Grenze zwischen dem uns normal Scheinenden und dem was uns unnormal vorkam völlig verwischte. Hätte jemand sie auf Chinesisch angesprochen oder gar vor ihr wie ein Elefant durch die Nase trompetet hätte sie das genauso wenig beeindruckt und sie hätte dabei genauso wenig verstanden wie bei den besänftigenden deutschen Worten, die die Mutter ihr immer wieder aufsagte. Die Welt war für sie ein unerforschter und faszinierender Ort, der, wie sie später verstand oder zumindest mit eigenen Augen wahrnahm, den Frauen gehörte. Menschen mit hoher Stimme, langen Haaren und üppiger Brust. 

Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob neben dem Aussehen und Charakter auch ein bestimmtes Schicksal weitervererbt wird, doch genauso wenig lässt es sich mit Sicherheit ausschließen. Und schon gar nicht in einem Fall wie diesem. Freilich, ein Ignorant oder ein Wissenschaftler, dem solch eine Auslegung nicht ins Konzept passte, würde es kurzerhand als Zufall abtun, als eine die Regel bestätigende Ausnahme, doch wenn auf dieser Ausnahme nun die gesamte Welt aufbaute? Leonis Welt? 

Leonies Welt war von Frauen erschaffen, das war ein unumstößlicher Fakt. Sie hatte eine alleinerziehende Mutter, die Mutter ihrer Mutter hatte allein gelebt, und in der Generation davor – bei der Mutter der Großmutter und der Mutter des (weiterhin) geheim gehaltenen Vaters der Mutter – war es genauso gewesen. Alle begrüßten sie mit dem gleichen demütigen und zugleich mitleidigen Blick, sie feierten diesen Moment und hofften genau wie unser Wissenschaftler, dass ein Schicksal trotz alledem nicht weitervererbt werden kann und Leonie den Beweis dafür liefern werde. 

Zumal das Schicksal von Leonies Mutter auch noch nicht besiegelt war, es war gewissermaßen noch offen, schließlich blieben nicht alle alleinerziehenden Mütter auf ewig allein. Wäre dem so, hätte ich besagte Mutter nie getroffen und kennen gelernt, und ich würde Leonie nicht großziehen und euch diese Geschichte nicht erzählen. 

Die Geschichte darüber, dass uns, obwohl wir nicht die gleichen Gene und auch keine anderen Gemeinsamkeiten hatten, eine paradoxe Nähe verband, die wir im Laufe der Jahre wiederfanden.   

3. Als wir uns trafen

Es war etwa drei Jahre später, als wir uns trafen. 

Leonie erkundete die Welt bereits auf eigenen Beinen und knüpfte aus ihren Gedanken schwer verständliche Sätze, doch was das Wichtigste war – sie strahlte und nahm alles, was kam, ohne Vorurteile an. Wie mich. Nur dank bin ich durchgekommen

Vielleicht aber nicht nur dank dessen. Vielleicht hatten wir schon zu jener Zeit intuitiv diese paradoxe Nähe gespürt, die sich praktisch auf nichts anderem gründete als dem Fakt, dass ich mit ihrer Mutter schlief. Sie konnte das natürlich nicht verstehen, doch dafür verstand sie all das andere, von dem ich zu jener Zeit schon nichts mehr begriff.  

Waldwanderung, Hügel besteigen und Picknick auf der Holzbank. Die Thermoskanne mit Tee, Käsebrote und wir drei. Zum ersten Mal gemeinsam. Leonie fasst nach ein paar argwöhnischen Blicken nach meiner Hand und zieht mich zu einem alten hohlen Baumstamm. Neugierig linsen wir hinein, wo es außer ein paar morschen Holzspänen absolut nichts gab. Selbstverständlich sah nur ich das so. Es war meine Interpretation. Nichts verstand ich.  

In Wirklichkeit war in diesem Stamm alles. In ihm war die ganze Welt, die Leonie gerade erkundete und die sie mir mit der Begeisterung eines Kindes zeigen wollte. „Oha“, staunte ich mechanisch, als sie mit dem Finger hinein zeigte, doch ich meinte es nicht ernst, es war mehr aus Solidarität zu ihr gesagt. Plötzlich raschelte es im nahen Gebüsch, trockene Äste brachen und wie aus dem Nichts tauchte vor uns ein majestätischer Hirsch auf. Er kam mehrere Schritte auf uns zu, wir rührten uns nicht. Als er auf einen guten Meter an uns heran war, verbeugte er sich höflich vor uns und lief davon. Das ist wahrhaftig so passiert. 

In diesem Moment wurde mir eines klar: die Welt – wie Gott sie erschuf – ist hier nicht so angelegt, dass der Mensch sie begreift, sondern dass er sich in sie fügt und die eigene Meinung nicht überbewertet. Wir kommen am nahesten an die Dinge heran, wenn wir uns einen Moment von ihnen entfernen und die Wirklichkeit, die sich vor uns entfaltet, ist hundert Mal interessanter, hundert Mal anregender, als alles Mögliche zuvor Gewesene. 

Und noch etwas wurde mir bewusst: Kinder und ihr Geist sind die Quelle von allem. Danach werden sie vernünftig und aus ihnen werden Erwachsene. 

4. Ich kehre einen Moment in meine Kindheit zurück

Auf dem Weg von der Wanderung nach Hause waren wir bereits Freunde. Das Erlebnis mit dem Hirsch hatte uns so zusammengeschweißt, dass Leonie überzeugt war, dass ich für immer an ihrer Seite sein würde. Wir hatten nicht mehr darüber gesprochen, es war nicht nötig. Auch gegenüber der Mutter erwähnten wir es nicht – wer weiß, wie sie es gesehen hätte. Schließlich hatten wir das Entscheidende erlebt und Worte konnten es nur verderben. 

Und so beschäftigten wir uns auf dem Heimweg mit Ratespielen, bei denen ich immer darauf achtete, zu verlieren. In kritischen Momenten nahmen wir Leonie Huckepack oder trugen sie auf den Schultern. Als Leonie auf meinen Schultern saß und vom gleichmäßigen Schaukeln immer müder wurde, als ihrer Mutter und mir schon die Worte ausgingen oder wir endlich die Ruhe des Waldes genießen wollten kamen in mir wie von selbst Erinnerungen an meine eigene Kindheit hoch, von denen ich gemeint hatte, sie wären längst zugeschüttet, verurteilt dazu, durch Neues und vermutlich Besseres ersetzt zu werden.  

Doch ich hatte mich geirrt. In beiderlei Hinsicht. 

Ich kehrte in Gedanken zu den Momenten meiner Kindheit zurück, die ich alles andere als genossen hatte – ich dachte an den unangenehmen Fahrradsturz, bei dem ich mit dem Kopf aufgeschlagen war, an die verbrannte Hand, die ich in einem Moment der Unachtsamkeit auf die heiße Herdplatte gelegt hatte und daran, wie ich von meiner Mutter ermahnt wurde oder war es mein Vater oder waren es ihre Eltern oder wer auch immer es gewesen war und wie mir Verbote erteilt wurden und ich so immer erwachsener wurde. Trotz allem ist mir meine Kindheit nahe und ich sehne mich nach ihr zurück. Ich fühle mich erfüllt von rührender Verbundenheit zu ihr, obwohl das von Grund auf trügerisch und falsch ist. Ich fühle all das, obwohl es nicht der Wirklichkeit entspricht. 

Plötzlich dringt die Stimme einer Frau durch all das zu mir: „Franz?“

„Ja, Liebes?“

„Die Kleine ist eingeschlafen, wir sollten sie auf dem Arm tragen.“

„Oh ja, entschuldige, ich war gerade etwas abwesend.“

„Darin gleicht ihr euch“, sagte Leonies Mama lachend. „Was habt ihr beide da oben eigentlich so lange geschaut?“

5. Unsere Touren 

Diese Tour haben Leonie und ich noch oft wiederholt. Und wir wiederholen sie bis heute. 

In Wirklichkeit waren unsere Touren aber nie gleich. Ich bezweifele inzwischen sogar, ob es rechtens ist, sie in einem Atemzug zu nennen, sie miteinander zu vergleichen, sie zu einem sich wiederholenden Ritual zu erklären, das sich dadurch auszeichnet, immer gleich abzulaufen und die gleiche Wirkung zu haben. 

Nein, unsere Touren waren verschieden, jede von ihnen war anders, auch wenn man meinen könnte, wir wären immer im selben Wald unterwegs gewesen. Doch ich frage mich: Hat das eine Bedeutung? Alles, was bei diesen Touren geschah, war doch wahrhaftig, wahr. Und darum geht es doch in erster Linie. Es geht nicht darum, durch welchen Wald wir zogen oder ob wir überhaupt unterwegs waren, sondern darum, wo wir am Ende ankamen. 

Es ist noch eine lange Geschichte. 

***

9. Rückkehren 

Es drängt sich einem jedoch die Frage auf, warum wir eigentlich immer nach Hause zurückkehren? Warum kommen wir lieber zurück, anstatt einfach weiterzugehen? Es gibt dafür unterschiedliche Erklärungen, eine der rationaleren wäre zum Beispiel: Zu Hause wartet Leonies Mutter auf uns. Doch andererseits waren wir nicht immer allein unterwegs, ihre Mutter schloss sich uns oft an, also? Warum kehrten wir zurück? Was war so stark, dass wir trotz des zurückgelegten Wegs immer wieder an den Ort zurückkamen, von dem aus wir aufgebrochen waren? Es kann darauf nur eine Antwort geben: Es war noch nicht die Zeit.   

Sicher gab es auch handfestere Gründe. Zum Beispiel, wenn vor uns ein Drahtzaun auftauchte oder ein anderes unüberwindbares Hindernis, das nur ein Verrückter zu übersteigen versucht hätte. Es macht auch einen Unterschied, ob man etwas unüberwindbar Scheinendes bezwingt, weil man dahinter seinen Weg weiterführen sieht oder ob man darüber klettert, weil es zufällig vor einem aufgetaucht ist und man eigentlich auch woanders lang gehen könnte (und man intuitiv weiß, dass man es auch sollte). Von solchen Stellen wird noch die Rede sein.  

Natürlich gab es auch hierfür Gegenbeispiele, denn es gab Orte, die keinen besonders abschreckenden Eindruck machten, eher im Gegenteil, und die auch nicht wirkten, als käme man auf ihnen nicht weiter. Und sie stellten sich als absolut annehmbar und angenehm heraus. Keinerlei Hindernisse, Nachstellungen oder drohende Gefahren, wegen der wir den Entschluss später bereut hätten. Wäre man in solch einem Fall nicht weiter gegangen, wäre man genauso verrückt gewesen. Warum entschieden wir uns an einer solchen Stelle dennoch zur Umkehr? Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt der Überlegung angelangt: Es ist noch nicht die Zeit. 

***

12. Wir entdecken ein ungewöhnliches Gasthaus  

War es nun Schicksal, Zufall oder ein spontaner Entschluss, wir können es nennen wie wir wollen, das Ergebnis blieb dasselbe. Wegen eines Brandes hatten wir radikal die Richtung geändert und gezwungenermaßen Wege genommen, die uns völlig unbekannt waren. Wir wussten nichts über sie, und genau dadurch eröffneten sie uns Neues. Wir kamen an vielen Freilandbeeten vorüber, an Bäumen und Sträuchern, doch am interessantesten und überraschendsten fanden wir ein kleines Haus, das mitten im Wald stand. War es eine Bar oder ein Café, wir hatten keine Ahnung. Wir wussten weder, was es war, noch was es hätte sein sollen, nur eines war offensichtlich – es war voller Menschen. Sie saßen an flachen runden Tischen, hielten weiße Tassen von unterschiedlicher Größe in den Händen und taten alle das Gleiche – sie diskutierten. 

Als wir uns nach unserer Ankunft umschauten, war es klar – hier konnte man auch wirklich nichts anderes tun. Es gab keinen einzigen Bildschirm, an der Bar lag weder eine Getränkekarte zum hineinschauen aus noch irgendein Zettel mit dem Angebot und niemand spielte mit seinem Handy oder erdreistete sich gar, laut in sein Telefon zu sprechen. So schrieben es die Regeln vor (sie hingen laminiert über der Bar aus), und wer hier hereinkam hatte sich einfach daran zu halten. Die einzige Ausnahme wurde bei Kindern gemacht, sie durften miteinander spielen während sie sich unterhielten, aber nur mit Spielzeug, das im Gasthaus auslag. Die anderen Spielsachen, elektronischen Geräte, Bücher oder Zeitungen musste jeder Besucher am Eingang abgeben und sie wurden ihm danach genauso wieder ausgehändigt. Zum Glück hatten wir nichts von alldem dabei, es hätte sonst auch keinen Sinn gemacht, auf Wandertour zu gehen. Wir traten also ein, ich fasste für Leonie kurz die Regeln zusammen und wir setzten uns an den erstbesten Tisch. „Das ist aber ein ungewöhnliches Gasthaus“, sagte Leonie und streifte dabei ihre Jacke ab, die an ihrem Rücken hinunterrutschte und zu einer kleinen Rolle zusammensackte. Ein ungewöhnliches Gasthaus.  Wir haben es seither nie mehr anders genannt.

„Was solls denn sein?“, fragte der Kellner, der plötzlich wie ein Geist neben uns erschien. Natürlich hatte er keine Getränkekarte dabei und natürlich lag auch hier nichts aus. 

„Zwei Tee“, begann ich vorsichtig, damit konnte ich nichts falsch machen. Als der Kellner keine Reaktion zeigte und ich ihn auch nichts notieren sah, versuchte ich es mit einer Konkretisierung der Bestellung: „Einen schwarzen und einen Kamillentee, bitte.“

„Einen Schwarzen und eine Kamille“, wiederholte er, als wolle er sich vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte, dann sagte er: Wie wir wünschen und kehrte hinter seine Theke zurück. 

Leonie sah sich währenddessen um, als sie die Spielecke mit den anderen Kindern entdeckte, erklärte sie höflich: „Ich komme gleich wieder“, sie stand vom Tisch auf und ging spielen. Es gab nichts, was ich darauf hätte entgegnen können, ich verstand sie vollkommen, und so lächelte ich nur und ließ sie gehen, wohin es sie zog.

Ich saß also allein am Tisch und mir blieb nichts übrig, als in die eigenen Gedanken einzutauchen oder unauffällig fremden Gesprächen zu lauschen. Wofür ich mich auch entschied, ich könnte in jedem Fall dezent verbergen, dass ich Leonie beim Spielen mit den anderen Kindern beobachtete. Ich hatte keinen Plan, und so war auch der folgende Entschluss keinesfalls Ausdruck meines Willens, sondern viel mehr die spontane Reaktion auf das, was sich vor mir zutrug. Und vor mir saß eine Gruppe von fünf Männern, deren Gespräch auch ohne die Ohren zu spitzen oder sich sonderlich anzustrengen zu verstehen war. Die Szene vor mir wirkte auf mich ein wenig wie eine Therapie-Gruppe für Männer mittleren Alters, ohne den Herren zu nahetreten oder sie voreilig in eine Schublade stecken zu wollen. Das Gespräch ging in Etwa so: 

„Fahren wir also fort: Was ist eurer Meinung nach Glück?“, fragte ein rundlicher Herr mit akzentuierter Stimme, was darauf schließen ließ, dass er so etwas wie der Leiter dieser Gruppe war, die in einem akkuraten Kreis um den Tisch Platz genommen hatte. Jeder Teilnehmer hielt ein Glas mit einer, den Boden bedeckenden bräunlichen Flüssigkeit in der Hand, was angesichts der übrigen Gäste ziemlich ungewöhnlich wirkte. 

Nach dieser beschwingten Frage sank ein Teil der Blicke zum Boden der Gläser, die anderen streiften auf der Suche nach einer Antwort zum Fenster hinaus über die Umgebung.

„Glück, das ist …“, begann einer der Männer mutig, wenngleich der Rest seiner Antwort schon weniger entschlossen klang, „das ist das Nebenprodukt eines sinnerfüllten Lebens.“  Nach einem kurzen Schweigen schickte er eine Frage hinterher, die zum Ausgangspunkt zurückführte: „Doch was ist ein sinnerfülltes Leben?“

Ein anderer meldete sich zu Wort und erklärte etwas schroff: „Es ist ganz einfach. Glück ist die Abwesenheit von Schwierigkeiten und Sorgen, es ist das Ziel menschlichen Handelns. Wegen ihm sind wir hier!“

„Aber nein, meine Herren, nicht so eilig!“, rief der dritte der Befragten und lachte. „Glück lässt sich doch nicht in einem Satz beschreiben. Es wurden schon ganze Bücher darüber verfasst, Romane und Essays, und nicht einmal sie brachten ein plausibles Ergebnis!“

„Klar“, meldete sich der Letzte aus der Runde, offensichtlich verärgert. „Zu sagen, dass etwas noch nicht definiert wurde und auch gar nicht definiert werden kann, ist leicht. Wir segeln hier wie auf Wolken zwischen Begriffen umher, die zwar jeder versteht, bei denen aber niemand weiß, was sie bedeuten. Meintest du das?“

In spannendsten Moment brachte mir der Kellner die zwei Tee, das heißt er brachte Tassen mit heißem Wasser, in die wir die beiliegenden Beutel mit den Kräutern einzutauchen hatten. Ich dankte ihm und zog mechanisch einen der Kräuter-Beutel aus der Verpackung, dann den anderen und fuhr währenddessen fort, Leonie zu beobachten und der Diskussion zu lauschen. 

„Soweit ich mich entsinne wird Glück im Lexikon ganz einfach erklärt: Es ist das günstige Zusammentreffen von Umständen oder einfach Erfolg“, erklärte der verärgerte Herr, und damit verpuffte offenbar sein Ärger, er reckte triumphierend seinen Kopf empor und ließ seinen Blick abschätzend über die anderen Diskutanten wandern, bis er jenen erreichte, dessen Erklärung ihm am wenigsten zusagte. „Sollte uns so eine Deutung nicht genügen?“

„Danke, Jakob“, ergriff der Leiter der Gruppe das Wort und kehrte mit einem einladenden Wink zu dem Vorredner zurück, der seinen Gedanken offenbar noch nicht zu Ende geführt hatte.  

„Erfolg?“, lachte jener. „Nichts für ungut, aber das ist es ganz sicher nicht. Wenn Glück lange anhalten soll, und es ist von seinem Wesen her so angelegt, können wir plötzliche Euphorie, Freude und Erfüllung nicht dazu zählen …“, er unterbrach sich und warf Jakob einen mitleidigen Blick zu, „… ähm und Erfolg auch nicht. Glück hat jeder von uns in sich, doch im Laufe der Zeit blenden wir es immer mehr aus und verbergen es vor der Welt. Schaut euch ein kleines Kind an“, fuhr er fort und wies dabei auf die Kinder in der Spielecke, vielleicht genau auf Leonie, „kennt ein Kind etwas anderes als Glück? Anders gefragt: Kennt es Unglück? Die Lebensenergie, die es in sich hat, ist seine Natur, doch wenn das Kind älter wird, vergisst es sie und sucht sich einen Ersatz für das, was es einst ganz natürlich besaß und erlebte.“ Jakob und ein weiterer Mann aus der Gruppe holten tief und energisch Luft und gaben durch das Heben des Zeigefingers Zeichen, dass sie etwas ergänzen wollten. Doch der gerade Sprechende bremste sie: „Ich weiß, ihr denkt jetzt an die Kinder, die auf der Straße zur Welt kommen oder in Familien von Gewalttätern und Alkoholikern hineingeboren werden. Bei ihnen ist es aber auch nichts anderes, ihre Phase des Glücks ist nur ein ganzes Stück kürzer und wird von Ängsten und Qualen abgelöst. Doch sie lernen aus diesen Gemütslagen! Aus Glück kann man nicht lernen, man stößt später wieder darauf, man findet es. Um es kurz zu machen, ich denke, Glück ist das, was als Erstes da ist und als Letztes bleibt. Es hängt von nichts anderem ab, weder von Besitztümern noch von Lebensumständen, es ist einfach der Kern, der den Menschen ausmacht und der in ihm allein bleibt, in seinem Innern.“ Er dachte einen Moment nach, dann schloss er seinen langen Beitrag mit den Worten: „Das Gleiche könnte man von der Liebe sagen, vom Sinn des Lebens, vom Geist … Doch ist es wirklich so? Ich weiß es nicht. Lasst uns unsere kleinen Kinder fragen. Sie werden uns nicht verstehen, doch sie sind dafür glücklich und sie lieben und leben!“

Alle aus der Fünfergruppe gingen mit zerknirschter Miene in sich, doch es hatte nichts von Groll, es rührte eher vom angestrengten Grübeln über den Gegenstand ihres Gesprächs her, dann kippten alle ohne eine weitere Bemerkung, man möchte fast sagen, ohne eine weitere sinnfreie Bemerkung ihr Getränk hinter. Sie atmeten kräftig aus und in ihren Mündern war nur noch die Bitterkeit unbekannten Ursprungs. Ich weiß es, denn nach ihnen spürte auch ich sie.

Und da wurde mir plötzlich klar, dass es bei den Männern die ganze Zeit um das Gleiche ging wie bei Leonie und mir. Möglicherweise hatte dieses Gespräch mich genau deshalb so interessiert. Sie suchten das Gleiche, sie suchten eine Nähe, die eine definitive Antwort liefern würde, doch je mehr sie sich ihr zu nähern schienen, desto weiter entfernten sie sich vom Wesentlichen. Daher das bittere Ende und die wortlose Nachdenklichkeit. Es gab nichts mehr zu sagen. Darum geht es bei diesem ewigen Paradox Nähe.     

Ich zog den ausgelaugten Tee aus den Tassen, legte die tropfenden Beutel auf den Untertassen ab und ging ohne zu zögern zur Spielecke hinüber. „Der Tee steht schon auf dem Tisch“, hätte ich sagen können oder „Komm etwas trinken und dich aufwärmen …“ Doch ich sagte nichts dergleichen, denn ich trat in ein weiteres laufendes Gespräch ein, das sogar noch interessanter war als das vorangegangene, und ich konnte es unmöglich mit einer banalen Eröffnung wie „Der Tee steht schon auf dem Tisch …“ unterbrechen. 

13. Leonie und andere Kinder

Man muss sagen, dass Leonie nicht nur auf Tiere, sondern auch auf Kinder ihres Alters eine fesselnde Wirkung hatte. Obwohl das Wort Wirkung es wohl nicht richtig trifft, sagen wir, sie weckte das Interesse der anderen. 

Ihre Kindheit war natürlich eine andere als unsere. Leonies Altersgefährten hatten eine engere Bindung zu den Youtube-Berühmtheiten als zu den eigenen Eltern, und sie fanden es auch nicht seltsam, auf dem Display des Smartphones Verwandte zu sehen, die Hunderte Kilometer weit weg waren. Was sich von Grund auf geändert hatte war der direkte physische Kontakt zu anderen Wesen, die sie berühren konnten, mit ihnen reden oder einfach schweigend mit ihnen spielen. 

Es stimmt, dieses natürliche Bedürfnis ließ sich nicht einfach ersetzen oder abstellen, es ließ sich aber durch andere Reize betäuben, woraufhin es sich verzog und aus dem Blick entschwand, so dass davon nur eine vage Erinnerung blieb, sobald man darauf zurückkam, von der nur ein Gefühl übrigblieb.   

Es wiederholte sich regelmäßig: Leonie rannte freudig hinter einem einzelnen Kind oder einer Kindergruppe her, sprach die anderen lächelnd an und begann mit ihnen zu spielen. „Meine neuen Freunde“, sagte sie, doch kaum widmete sie ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit, liefen die anderen Kinder zu ihren Eltern zurück oder gingen einfach beiseite, wo sie die ganze Angelegenheit vergessen und in ihre eigene Welt zurückkehren konnten. 

Wie es kam war, nicht klar, man hätte meinen können, die anderen waren nicht zu einer solchen Offenheit fähig, was durchaus plausibel schien, doch die Wahrheit lag anderswo. Sie steckte in einer alten, kaputten Taschenuhr, die Leonie zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt bekommen hatte und seitdem ständig bei sich trug. Sie hatte sie auch dieses Mal einstecken, was ich nicht wusste, und nachdem die Situation sich schon mehrmals wiederholt hatte, verstand ich nun, worum es ging. Leonie zeigte den Kindern ihre Uhr und erklärte ihnen etwas dazu. Und während ich mich ihnen mit diesem unsäglichen Satz auf den Lippen unbemerkt näherte, konnte ich nun endlich das kurze Gespräch mithören, das offenbar bei den anderen Kindern diese Reaktion auslöste. Und es ließ mich schweigen. 

„Warum geht die Uhr nicht?“, fragte ein Kind auf die Uhr schauend. 

„Wenn sie gehen würde, würden wir auseinander gehen, darum“, antwortete Leonie, woraufhin die Kinder wie schon viele Male zuvor erschrocken zu ihren Eltern liefen. Zum Glück hatte der Kellner die Uhr nicht gesehen, sie wäre sie wohl losgeworden. 

Vielleicht habe ich Leonie am Ende auch deshalb mit diesem stumpfsinnigen Spruch angefahren: „Leonie, was machst du denn? Das geht hier nicht.“ Danach blieb mir nichts übrig, als hinzuzufügen: „Der Tee steht schon auf dem Tisch.“

Leonie horchte auf, sie kehrte mit mir an den Tisch zurück und wir tranken unseren Tee. Ich frage mich bis heute, wie sie darauf kam. Es war wirklich ein ungewöhnliches Gasthaus, doch das lag nicht an seinen Regeln und auch nicht an seiner Ausstattung, die uns anfangs sehr sonderbar vorkam, es wurde durch die äußerst ungewöhnlichen Umstände und Menschen dazu, die hier zusammengekommen waren und die, ohne sich dessen bewusst zu sein, auffällig viel Gemeinsames verband.